Mehr als 150 Teilnehmer:innen kamen am 23. September zum sechsten vivavelo-Kongress der Fahrradwirtschaft nach Berlin. Bereits am Vorabend nutzten viele beim Prolog die Gelegenheit, sich zu vernetzen. Der Kongress wurde dieses Jahr erstmals gemeinsam von den Branchenverbänden Verbund Service und Fahrrad (VSF), Zukunft Fahrrad und dem Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) durchgeführt. Einen erfrischend neuen Rahmen zur NRW-Landesvertretung in den letzten Jahren bot das traditionsreiche Versammlungshaus der medizinischen Gesellschaft an der Charité aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts, das Langenbeck-Virchow-Haus.

vivavelo Prolog

Das Vorabendprogramm bot zwei Impulsvorträge sowie Raum für Gespräche und Networking. Für einen mitreißenden abendlichen Auftakt sorgten Martha Marisa Wanat und Dr. Stefan Carsten mit ihren Impulsvorträgen. Martha Marisa Wanat ist Co-Autorin des Buches „Bewegt euch. Selber! Wie wir unsere Mobilität für gesunde und klimaneutrale Städte neu erfinden können“ sowie Mitgründerin des Berliner Cycling Concept Stores „BICICLI: Gesellschaft für Urbane Mobilität“ und Gesellschafterin der Mobilitätsberatung „MOND – Mobility New Designs“. In ihrem Vortrag betonte sie unter anderem den Widerspruch zwischen der aktuellen Mobilitätspolitik dem, was die Menschen wollen: Für mehr Lebensqualität, Gesundheit und soziale Gerechtigkeit müsse noch weit mehr getan werden als es aktuell der Fall ist. Sie forderte alle Zuhörerinnern und Zuhörer leidenschaftlich dazu auf, sich endlich raus aus der Passivität zu bewegen und eine klima- und sozialgerechte Mobilität gemeinsam, aktiv voranzutreiben.

Einen inspirierenden Vortrag bot auch Dr. Stefan Carsten, Autor, Speaker, Stadtgeograf und Experte für die Themenfelder Zukunft, Stadt und Mobilität. Er wies unter anderem auf neue Rahmenbedingungen im Markt hin wie das „Environmental, Social, Governance“. Die Begriffe Environmental, Social und Governance (ESG) stehen für das Bestreben, die Steigerung des Geschäftswachstums mit dem Engagement für eine nachhaltigere, gerechtere und ethisch einwandfreie Zukunft zu verbinden. Unternehmen, die diese Faktoren in ihr Handeln einbinden, agieren weniger riskant und steigern ihre Erfolgswahrscheinlichkeit. Aber auch institutionelle Investoren bestimmen hier die Spielregeln neu, indem sie Zukunftschancen von Unternehmen an diesen Kriterien festmachten.

vivavelo Kongress: Eröffnung und Keynotes

In ihren Eröffnungsreden betonten die drei Verbandsgeschäftsführer Wasilis von Rauch (Zukunft Fahrrad), Uwe Wöll (VSF) und Burkhard Stork (ZIV) die Bedeutung des Fahrrads und der Fahrradwirtschaft für die Mobilitätswende. Zudem zeigten sie die politischen Handlungsfelder auf, in denen etwas passieren muss, damit diese Potentiale noch besser genutzt werden können. Dazu gehören unter anderem ausreichend Bundesmittel für die Infrastruktur, eine Reform von StVO und StVG oder auch eine Strategie zur Fachkräftesicherung. Die Forderungen finden sich auch in einem gemeinsamen Forderungspapier, das im Vorfeld des Kongresses veröffentlicht wurde.

Karola Lambeck, Radverkehrsbeauftragte des Bundesministeriums für Digitales und Verkehr, betonte in ihrer Eröffnungsrede die verstärkten Anstrengungen der Bundesregierung für mehr Radverkehr. Außerdem hob sie hervor, dass bei der Umsetzung der Mobilitätswende alle Ebenen gefragt sind – vom Bund, über die Länder bis hin zu den Kommunen. Auch Stefan Körzell, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) und Michael Kellner (Bündnis 90/Die Grünen), Parlamentarischer Staatssekretär des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz erkannten in ihren Keynotes die Bedeutung des Fahrrads als gesunden, klimafreundlichen und sozialen Baustein im Mobilitätsmix an.

DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell hob die Rolle der betrieblichen Mobilität hervor und versicherte die Bereitschaft der Gewerkschaften, beim Dienstrad-Leasing aktiv mitzuwirken. Mit Blick auf den Fachkräftemangel wies er darauf hin, man müsse verstärkt unausgebildete junge Menschen ansprechen. Michael Kellner, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, betonte, dass die Bundesregierung an der Seite der Fahrradbranche stünde und unterstrich: „Der Fahrradwirtschaft gehört die Zukunft. Hier werden Lösungen für die Klima- und Verkehrswende in der Stadt und auf dem Land entwickelt. Das BMWK steht fest an der Seite der Branche“.

Die Fachpanels

In vier Fachpanels wurden die Kernthemen der Branche diskutiert. Am Vormittag standen die Themen „Nachhaltigkeit“ sowie „Bahn und Rad“ auf dem Programm, am Nachmittag dann „Arbeitskräftemangel“ und „Tourismus“.

„Lediglich 0,15% der deutschen Unternehmen wirtschaften ganzheitlich nachhaltig.“ Nicht nur mit dieser Aussage verdeutlichte Dr. Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft (BNW) der Zuhörerschaft, dass noch viel getan werden muss, um Unternehmen in Sachen Nachhaltigkeit stärker in die Pflicht zu nehmen. Dabei ging es insbesondere mit Blick auf die Fahrradbranche darum, sich nicht auf dem per se „nachhaltigen Charakter“ des Produktes Fahrrad „auszuruhen“, sondern unternehmerisch weit darüber hinaus zu denken und zu agieren. Auch wurde die neue Richtlinie der EU zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen angesprochen: Die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) zielt darauf ab, die Transparenz im Bereich der Nachhaltigkeit erheblich zu erhöhen und stellt hohe Anforderungen. Sabine Zickgraf, Leitung Nachhaltigkeit VSF, stellt das neue VSF all-ride Nachhaltigkeitssiegel vor, welches Fahrradfachgeschäfte auf Basis eines strengen Leitfadens zum „nachhaltigen Fachgeschäft auszeichnet. Die VSF-Schulung mit anschließender Betriebsprüfung ist Voraussetzung. Isabell Eberlein, Geschäftsführerin Velokonzept, verwies außerdem den Branchenleitfaden, welchen die Fahrradwirtschaft aktuell kooperativ erarbeitet.

Speaker:innen;

Marius Hasenheit & Alka Celic, Sustainable Natives
Dr. Katharina Reuter, BNW
Isabell Eberlein, Velokonzept
Sabine Zickgraf, VSF

Vorträge zum Download:

Vortrag Dr. Katharina Reuter

Vortrag Sabine Zickgraf

Vortrag Isabell Eberlein

Während das Fahrrad und die Bahn beispielsweise in den Niederlanden im engen Verbund gedacht und geplant werden, sieht es in Deutschland (noch) ganz anders aus. Radfahrer:innen und Bahn, das fühle sich oft „wie eine unerwiderte Liebe“ an, so Ann-Kathrin Schneider, Bundesgeschäftsführerin des Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club ADFC im Gespräch mit Helene Wahl, Planerin für Bahnhöfe und Verkehrsverknüpfung und Meike Niedbal, Staatssekretärin für Mobilität im Berliner Senat. Gemeinsam wurde überlegt, wie dieses „Dreamteam“ zusammenfinden kann. Moderiert wurde das Panel von Dorothee Heine, Gründerin der Agentur Two Wheels Good und stellverstretende Vorstansavorsitzende von Zukunft Fahrrad. Ein breites Bündnis von Fahrrad- und Schienenakteuren arbeitet dafür zurzeit an konkreten Lösungen im Rahmen der Brancheninitiative Fahrrad und Bahnen. Die Fahrradwirtschaft wird dort von Zukunft Fahrrad vertreten.

Speaker:innen:

Dorothee Heine, Zukunft Fahrrad
Ann-Kathrin Schneider, ADFC
Dr. Meike Niedbal, Staatssekretärin für Mobilität im Berliner Senat
Helene Wahl, NAH.SH

Fahrradförderung konzentriert sich in der Regel auf urbane Räume oder, mit Blick auf den Tourismus, auf klassische Routen entlang von Flüssen. Weitgehend außen vor bleiben bislang über 16 Millionen Menschen in Deutschland, die sich für das (E-)Mountainbiken interessieren. Die Zahl der häufig Aktiven liegt hier mit 3,82 Millionen sogar über der Anzahl der aktiv Fußballspielenden (3,2 Mio.). Während es Bolzplätze fast an jeder Ecke gäbe, seien offizielle Mountainbike-Angebote aber Mangelware oder in vielen Städten und Kommunen gar nicht vorhanden, darauf wiesen unter anderem Nico Graaff vom Mountainbike Tourismusforum und Ingmar Hötschel von der Deutschen Initiative Mountainbike hin. Eine starke Stimme für das Mountainbiken soll es mit dem neuen „Bike Nature Movement“ geben, in dem sich die genannten Verbände mit dem Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) zusammengefunden haben.

Speaker:innen:

Ingmar Hötschel, Deutsche Initiative Mountainbike
Nico Graaff, Mountainbike Tourismusforum
Nora Mühling, Mountainbike Tourismusforum
Anja Miksch, Deutsche Initiative Mountainbike

Vorträge zum Download;

Vortrag Burkhard Stork

Vortrag Ingmar Hötschel

Die Suche nach qualifizierten Fachkräften gestaltet sich nicht nur in der Fahrradbranche als schwierig. Uwe Wöll, VSF-Geschäftsführer, macht das auf dem Kongress anhand von aktuellen Zahlen deutlich: Laut Zentralverband des deutschen Handwerks fehlen in Deutschland über 250.000 Mitarbeitende im Handwerk. Eine der Ursachen ist die zunehmende Akademisierung in der Ausbildung. Zusätzlich sorgt der demographische Wandel für jährlich massive Arbeitskraftverluste. Im Fahrradhandel seien aktuell etwa 7.000 freie Stellen in der Werkstatt zu besetzen, 5.000 im Verkauf und  6.000 weitere in Verwaltung und Marketing. Während jedes Jahr mehr als 65.000 junge Menschen eine Ausbildung zur Kfz-Mechatroniker:in beginnen, liegt die Zahl für Zweiradmechatroniker:innen bei gerade mal 1.800 Personen. Absurd angesichts der notwendigen Verkehrswende und der anerkannten Zukunftsfähigkeit und Attraktivität der Branche. Umso wichtiger: Unternehmen müssen in moderne und zielführende Maßnahmen zur Personalgewinnung investieren und das Image der Fahrradbranche in der Breite manifestieren. Eine wichtige Plattform dazu liefert die Fachkräftekampagne fahrrad-berufe.de.

Speaker:innen:

Thorsten Heckrath-Rose & Jeannine Theißen, Rose Bikes
Uwe Wöll, VSF
Reiner Kolberg, Fachjournalist
Gunnar Fehlau, Bike Bootcamp

Vorträge zum Download:

Vortrag Thorsten Heckrath-Rose & Jeannine Theißen

Vortrag Uwe Wöll

Fazit und Ausblick

„Nur gemeinsam kommen wir weiter“, so das Fazit der veranstaltenden Verbände bei der Abschlussrunde zum Kongress. Sowohl innerhalb wie außerhalb der Fahrradwirtschaft muss die Vernetzung weiter intensiviert werden, um die nachhaltige Wirtschaft zu stärken und eine soziale und klimaneutrale Mobilitätswende zu erreichen. Die Potenziale des Radverkehrs für Klimaschutz, lebenswerte Kommunen und den Wirtschaftsstandort Deutschland müssen genutzt werden.

Der nächste Vivavelo-Kongress findet 2024 statt. Der genaue Termin wird zu einem späteren Zeitpunkt bekannt gegeben.

©David Gauffin